Ausgabeverhalten von Familien und subjektive Lage materiell armer Kinder in Baden-Württemberg
Am 23. November 2015 wurde der erste Armuts- und Reichtumsbericht Baden-Württembergs veröffentlicht, der eine umfassende Analyse der Einkommens- und Lebenslagen der Menschen in Baden-Württemberg mit dem Schwerpunkt Kinderarmut beinhaltet. Im Rahmen der Erarbeitung dieses Berichts wurde das Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung e.V. (IAW) mit dem Forschungsprojekt „Ausgabeverhalten von Familien und subjektive Lage materiell armer Kinder in Baden-Württemberg“ beauftragt.
Ziel des Projekts war es, qualitativ wie quantitativ Aufschluss über Umfang und Zusammensetzung familiärer Ausgaben, über ökonomische Erfordernisse sowie über die subjektive Wahrnehmung der finanziellen Lage armutsgefährdeter Familien zu geben. Zudem sollten subjektive Erfahrungen und Perspektiven von armutsgefährdeten Kindern im Umgang mit ihrer materiellen Lage verdeutlicht werden. Im Weiteren war das Ziel, individuelle Ansatzpunkte zur Bewältigung dieser Lebenslage in enger Verbindung mit subjektiv empfundener Handlungsfähigkeit aufzuzeigen..
Im Gegensatz zur Einkommensseite ist das Ausgabeverhalten von Familien noch weitgehend unerforscht. Basierend auf der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) 2008 des Statistischen Bundesamtes wurde daher ein Vergleich des Ausgabeverhaltens zwischen armutsgefährdeten und nicht-armen bzw. wohlhabenden Familien vorgenommen. Ergänzend wurden leitfadengestützte Interviews mit strukturell benachteiligen bzw. von Armut bedrohten Eltern geführt, um den Zusammenhang zwischen subjektivem Armutsempfinden und Konsumentscheidungen zu untersuchen.
Die Analysen zeigten, dass armutsgefährdete Familien 2008 im Durchschnitt etwas mehr als ihr gesamtes Einkommen für die laufenden Ausgaben ihrer Haushalte verwendeten. Die Differenz musste durch die Auflösung von Ersparnissen oder durch Kredite gedeckt werden. Bereits die grundlegenden Bedürfnisse wie Wohnen und Ernährung verschlingen bei armutsgefährdeten Familien mehr als die Hälfte des Einkommens, gespart wird vor allem bei den Ausgaben für Gesundheit und Mobilität.
Trotz in der Regel bescheidener Wohnverhältnisse geben einkommensschwache Familien mehr als ein Drittel ihrer Konsumausgaben für die Wohnung und Energieversorgung aus. Ihre Konsumquote liegt in diesem Bereich bei 38%, während die von Familien mit mittleren Einkommen 21% beträgt. Im Vergleich zu einkommensstärkeren Haushalten geben armutsgefährdete Familien zudem einen überproportional hohen Betrag für Nahrungsmittel und Getränke aus. Die Konsumquote liegt hier bei fast 20%, während Familien im mittleren Einkommensbereich eine Quote von etwas über 14% aufweisen.
Ausgaben für Kommunikation wie zum Beispiel der Versand von Briefen, aber auch der Kauf von (Mobil-)Telefonen oder die Nutzung des Internets sind bei Haushalten mit Kindern weitgehend unabhängig vom Einkommen. Auch der Anteil der Ausgaben für Bildung am gesamten Konsum der Familien ist für alle Einkommensklassen in etwa gleich groß und bewegt sich zwischen 2,7 und 2,9%. Unterschiede zeigen sich wieder bei der Kinderbekleidung. Hier liegt der Ausgabenanteil von einkommensschwächeren Familien mit 1,6% etwas höher als bei Mittelschichtfamilien (1,5%) und deutlich über dem der einkommensreichen Familien (1,1%).
In armutsgefährdeten Familien versuchen die Eltern die Kinder weitestgehend von den finanziellen Problemen abzuschirmen. So üben sich oftmals eher die Eltern im Verzicht, als dass ihre Kinder auf etwas verzichten müssen. Außerdem nutzen armutsgefährdete Eltern verwandtschaftliche oder soziale Netzwerke, um die Bedürfnisse ihrer Kinder zu erfüllen. So werden häufig Großeltern oder Verwandte in die Freizeitgestaltung oder Urlaubsplanung einbezogen, was zu einer materiellen Entlastung der Familie führt.
Eng verknüpft mit dem Ausgabeverhalten von Familien ist auch die Fragestellung zur subjektiven Lage von materiell armen Kindern. Um die Lebenswelt aus Sicht des Kindes in armutsgefährdeten Familien zu betrachten und Handlungs- und Entscheidungsspielräume der Kinder zu untersuchen, war es erforderlich, das Kind als Experten zu verstehen, welches über die Wahrnehmung seiner Situation berichten kann. Aus diesem Grund wurden in zwei Familien- und Begegnungszentren Gespräche mit Kindern geführt. Die Gespräche wurden thematisch strukturiert und mittels kommunikationsanregender Techniken durchgeführt. Zu keinem Zeitpunkt der Gespräche wurde allerdings das Thema Armut gegenüber den Kindern offensiv angesprochen, um die Kinder nicht zu stigmatisieren oder eine mögliche Problemlage zu verdeutlichen, vor der sie bislang durch die Eltern geschützt worden sind. Vielmehr wurden die Kinder in Anlehnung an den Capability Approach gebeten, ihre subjektiven Sichtweisen und Einschätzungen darüber abzugeben, was Kinder allgemein für ein gutes und erfüllendes Leben benötigen und in welcher Weise dies auch auf sie zutrifft. Ergänzend fanden Gespräche mit den Eltern und dem Fachpersonal der Begegnungszentren statt.
Da Armut nicht ausschließlich als unzureichende Einkommenslage der Familie verstanden werden darf, sondern aus einer mehrdimensionalen Perspektive betrachtet werden muss, wurden die Aussagen der Kinder vier Dimensionen zugeordnet. In der ersten Dimension „materielle Grundversorgung“ wurde von den meisten Kindern als wichtig für ein gutes und glückliches Leben die Notwendigkeit genannt, in der Zukunft einen Beruf zu haben und viel Geld zu verdienen, um die Familie absichern zu können. Durch den Besitz von Taschengeld verfügten die Kinder über für sie bedeutsame, wenn auch kleine, Handlungsspielräume. In den Gesprächen mit den Kindern wurde somit deutlich, dass das finanzielle Einkommen für die eigene Zukunft eine wichtige Rolle spielt und dass die Kinder unabhängig vom Alter um die Anforderungen gesellschaftlicher Teilhabe durch Erwerbstätigkeit wissen. Mit Blick auf die Dimension „soziales Beziehungsgefüge und Netzwerke“ wurden von den Kindern insbesondere Familie und Freunde als überaus wichtig für ein gutes Leben benannt, da diese ihnen Halt, Schutz und Unterstützung bieten. Neben den Netzwerken der Kinder spielen aber auch die sozialen Kontakte und das Netzwerkverhalten der Eltern eine bedeutende Rolle, denn je dünner das Netzwerk an sozialen Kontakten der Eltern ist, umso größer ist die Gefahr sozialer Isolation auch für das Kind. Daher sind Kinder auch auf ein soziales Netzwerk der Eltern angewiesen, wenn sie ein gutes Leben führen wollen. Die Dimension „Bildungs- und Erfahrungsmöglichkeiten“ verdeutlicht, dass der Besuch der Schule von den meisten Kindern als wichtig und bedeutsam für die eigene Zukunft beschrieben wurde. Mit Bildung und Qualifikation verbanden die Kinder zugleich auch soziale und finanzielle Absicherung sowie gesellschaftliche Teilhabe und Partizipation, sodass für ein gutes Leben uneingeschränkte Bildungsmöglichkeiten benötigt werden. In der vierten Dimension „Freizeit und Erholung“ zeigte sich, dass Kinder für ein gutes Leben Räume zur Regeneration und zum Aufladen ihrer Energiereserven benötigen. Aufgrund der wirtschaftlichen Lage der Familie war zwar die Freizeit- und Urlaubsgestaltung eingeschränkt, die meisten Kinder mussten aber nicht gänzlich darauf verzichten. So hatten Ausflüge in die nähere Umgebung für die Kinder einen hohen Spaßfaktor, zudem waren viele in Vereinen sportlich aktiv. Durch die teils beengten Wohnverhältnisse hatten die Kinder aber kaum die Möglichkeit, sich mal zurückzuziehen, daher wurde der Wunsch nach einem eigenen Zimmer geäußert.
Zusammenfassend äußerten die befragten Kinder Zufriedenheit mit ihrem Leben und berichteten nicht von einem Gefühl, sozial ausgeschlossen zu sein. Dies ist zum einen darauf zurückzuführen, dass die befragten Kinder in Familien leben, die über stabile familiäre Netzwerke und soziale Bindungen verfügen. Zum anderen sind die Eltern durch eigenen Verzicht bestrebt, den Handlungs- und Gestaltungsspielraum ihrer Kinder soweit es ihnen möglich ist zu öffnen, damit diese ohne große Einschränkungen aufwachsen können. Armut ist somit nicht immer auf den ersten Blick erkennbar. Die Kinder in unsere Untersuchung und deren Eltern bilden eine „besondere Gruppe“ unter den von Armut bedrohten Haushalten. , Sie gehen nämlich aktiv gegen ihre Isolation vorgegangen, indem sie regelmäßig die Familien- oder Begegnungszentren aufsuchen und dort teils auch ehrenamtlich mitarbeiten. Familien, die solche Strategien noch nicht entwickelt haben, haben nicht an der Untersuchung teilgenommen, sodass über deren Handlungs- und Gestaltungsraum keine Aussagen getroffen werden können.
Auftraggeber:
Familienforschung Baden-Württemberg (FaFo) im Statistischen Landesamt Baden-Württemberg
Projektteam:
- Dipl.-Volkswirtin Andrea Kirchmann Projektleitung
- Dipl.-Soziologe Rolf Kleimann
- Dipl.-Pädagogin Christin Schafstädt
Ansprechpartner:
Andrea Kirchmann ( 07071 9896 33 // E-Mail )
Status:
2014 - 2014